Theophil Antonicek war über Jahrzehnte eine tragende Säule unserer Gesellschaft. Er begann 1963 als Sekretär, wurde 1975 Mitglied der leitenden Kommission und übernahm nach dem Tod Othmar Wesselys 1998 schließlich das Amt des Leiters der Publikationen, das er bis zu seinem Tode aktiv ausfüllte. 2006 wurde er zum Wirkenden Mitglied, ein Jahr darauf zum Ehrenmitglied der Gesellschaft ernannt. 1998 bis 2010 betreute er zudem als Mitherausgeber die Studien zur Musikwissenschaft. Mit ihm verliert die Gesellschaft eine stets um Integration bemühte, ebenso kompetente wie bescheidene Persönlichkeit.
Die Beerdigung fand am 5. Mai 2014 im ‚Romantikerfriedhof‘ Maria Enzersdorf statt. Eines war Theophil Antonicek nie und wollte es nie sein: romantisch. Die Begräbnisstätte seines Herzens war der St. Marxer Friedhof. Doch mochte er ihn nicht, weil der Platz so romantisch anmutet, sondern weil lauter Bekannte dort begraben liegen, zumindest ihm bekannte. Oft genug durchstreifte er mit seinen Schülern die Gräberzeilen, und erinnerte an viele Personen, deren Namen den meisten von uns nichts bedeuteten. Das große Buch des Josephinismus und des Wiener Biedermeier liegt im St. Marxer Friedhof aufgeschlagen vor uns, und Theo las darin, kundig, ausdauernd, mit treuer Anteilnahme.
Er war ein großartiger Topograph. Wer mit ihm durch die Wiener Innenstadt, durch Venedig oder Rom spazierte, konnte staunen, wie viele Informationen zu bestimmten Orten ihm präsent waren, wie viele Querverbindungen er herzustellen wusste. Eine seiner großen Stärken, die ihm dabei nützte, war sein phänomenales Gedächtnis. Man erlebte ihn als wandernden – und in etlichen Sprachen bewanderten – Zitatenschatz. Theophil Antonicek verkörperte, was man früher einen Gelehrten nannte, einen Menschen, der eine immense Fülle an breit gestreutem und gut strukturiertem Wissen im Gedächtnis speichern und verfügbar halten kann – inzwischen eine aussterbende Spezies.
In der Arbeit im Archiv und der Erschließung von Quellen sah Antonicek immer die Basis wissenschaftlicher Tätigkeit. Die Forschungsgegenstände seiner Schriften waren zeitlich und geographisch weit gestreut, wobei ein klarer regionaler Fokus auf Wien und Österreich lag. Sehr oft ging es um institutionen- und sozialgeschichtliche Aspekte, auch dort, wo zunächst und ausdrücklich Gattungen oder Personen im Mittelpunkt der Untersuchung standen. Die Dissertation etwa widmete sich Ignaz von Mosel, einer Person, die sozial vielfältig verankert ein ganzes Zeitalter repräsentiert. Mosel war ‚Musikmanager‘, Dirigent, Bearbeiter, Komponist, Theoretiker und Historiker und in dieser breiten Palette an Tätigkeiten eine Schlüsselfigur der sich im frühen 19. Jahrhundert mächtig ausbreitenden bürgerlichen Musikkultur Wiens – ein Zeitgenosse der ‚Romantiker‘, jedoch aus anderem Holz geschnitzt.
Antoniceks Studien zu Anton Bruckner lassen viel vom akademischen Milieu des ausgehenden 19. Jahrhunderts erkennen. Sie sind weniger auf Meisterwerke und einen Musikheroen und mehr auf soziale Strukturen aus und eröffnen solcherart eine Vielzahl von Anknüpfungsmöglichkeiten für aktuelle kulturwissenschaftliche Fragestellungen. Auch als Leiter des Anton Bruckner Instituts in Linz richtete der Verstorbene den Fokus der Arbeit nicht nur auf den großen Komponisten und sein Werk, sondern mindestens ebenso auf das soziale Gefüge, das damals Kunst ermöglichte, auf regionales Musikleben und die wirtschaftlichen Grundlagen der Künstlerexistenz. Kunst verstand er nicht als Gabe oder Wirken eines Einzelnen, sondern als im weitesten Sinne gesellschaftliches und kulturelles Phänomen.
Zu dieser Kultur zählt auch die Forschungstradition. Die frühe Entwicklung des Faches Musikwissenschaft in Österreich und die Reflexion seiner Tradition gehörten ebenfalls zu Antoniceks bevorzugten Forschungsfeldern. Er befasste sich intensiv mit Guido Adler und seinen Schülern und natürlich auch mit dessem großen Editionsprojekt Denkmäler der Tonkunst in Österreich, für das sich Theophil Antonicek über Jahrzehnte als Sekretär, als Mitglied der leitenden Kommission und schließlich als Leiter der Publikationen intensiv einsetzte. Erst vor wenigen Wochen stellte er eine Ausgabe des Parnassus musicus Ferdinandeus fertig, einer Sammlung Geistlicher Konzerte verschiedener, vor allem italienischer Komponisten des frühen 17. Jahrhunderts. Der Grazer Hofmusiker Giovanni Battista Bonometti hatte den Band kompiliert und 1615 mit einer Widmung an seinen Dienstherrn Erzherzog Ferdinand II. von Innerösterreich in Druck gegeben. Dieses gewichtige Vermächtnis unseres Editionsleiters markiert zwei weitere Schwerpunkte in dessen Forschungen: das italienische Frühbarock und die Herrscherfamilie der Habsburger.
Der unermüdliche Wissenschaftler unterrichtete viele Jahre an der Universität Wien. Sein Lehrangebot durchmaß eine große thematische und zeitliche Bandbreite, die von der Florentiner Camerata bis zu zeitgenössischen Komponisten reichte, die er in seinen Lehrveranstaltungen immer wieder persönlich zu Wort kommen ließ. Als Betreuer zeichnete den Verstorbenen eine Eigenschaft aus, die ihm viel Liebe eintrug, in der er vielleicht manchmal in seiner übergroßen Güte auch zu weit ging: Er ließ viel zu. Ich habe dieses offene und neugierige Zulassen als eine große Stärke erlebt. In seinen Doktoranden- und Diplomanden-Seminaren versammelten sich Leute, die an den unterschiedlichsten Gegenständen interessiert waren: Immer fanden sie ein offenes Ohr, fanden sie bei ihrem Betreuer Förderung und Anregung.
Theophil Antonicek hat wie wenige andere verstanden, Kontakte zu knüpfen und Beziehungsnetze aufzubauen. Forschungsprojekte führten ihn früh nach Göttingen, Rom und Venedig. Später übernahm er die Auslandskontakte des Wiener Instituts für Musikwissenschaft in seine Verantwortung und betreute Lehrende und Studierende aus vielen Ländern Europas, besonders aus den östlichen und südlichen Nachbarländern. Der lange bestehende Kontakt zur Universität Brünn etwa wurde von ihm nach 1989 rasch intensiviert. Ich erinnere mich an eine Reise dorthin, die Theo mit einer Gruppe von Studierenden bereits zwei oder drei Monate nach der samtenen Revolution unternahm und die allen Beteiligten Gelegenheit bot, den Grundstein für jahrzehntelange Freundschaften und Kooperationen zu legen. Die Kolleginnen und Kollegen in den Nachbarländern schätzten diese Initiativen außerordentlich. Antonicek erhielt als Zeichen des Dankes im Juni 2000 das Ehrendoktorat der Masaryk-Universität Brünn.
Die Profilierung der österreichischen Musikwissenschaft und eine verstärkte Kommunikation zwischen den hiesigen Forschungsinstituten und Forscherpersönlichkeiten war das Ziel der 1972 erfolgten Gründung der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft. Auch hieran war Theophil Antonicek maßgeblich beteiligt. Sein Engagement für diese fruchtbare Gesellschaft mündete in seiner Wahl zum Präsidenten 1990. Zudem waren ihm stets auch Kontakte über die Fachgrenzen der Musikwissenschaft hinaus wichtig. Er pflegte Freundschaften und kollegiale Kontakte in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der er über Jahrzehnte als Mitarbeiter und Kommissionsmitglied angehörte. 1984 wurde er zum Korrespondierenden Mitglied bestellt, 1995 zum Wirklichen Mitglied ernannt.
Wissenschaft als ein Projekt vieler, als Gemeinschaftsprojekt: Theophil Antonicek repräsentierte dieses Prinzip im täglichen Leben. Wenn man mit irgendeiner wissenschaftlichen Frage zu ihm kam, erhielt man zunächst ein paar Ratschläge. Dann wurde man auf andere verwiesen, die vielleicht mehr wissen könnten. Dahinter steckte Bescheidenheit – und Realismus. Die Universität ist in ihrem Kern eine Kommunikationsgemeinschaft, eine Institution zur effizienten Zirkulation des Wissens durch Lehre. Der einzelne kann immer nur ein Rädchen eines größeren Getriebes bilden.
Der Reichtum an Beziehungen, der sich aus einer solchen Haltung ergab, war für alle Absolventen ein großer Vorteil. Wenn es darum ging, eigene Kontakte aufzubauen, vielleicht bei einem kleinen Projekt mitzuarbeiten oder gar darum, eine Stelle zu ergattern, dann war Theos Einsatz für seine Schützlinge immer hilfreich und oft auch erfolgreich, das Verdienst eines Netzwerkers und Teamplayers. Bei einer solchen Hilfe für den Schüler, den Nachwuchs, die Jungen im Fach stand nicht die besitzergreifende Bevormundung des Wissenschaftsfunktionärs im Zentrum, sondern die Uneigennützigkeit des wahren Pädagogen und Philanthropen.
Abschließend möchte ich anstelle einer blauen Blume einen Kranz von Eigenschaften auf sein Grab legen, – guten Eigenschaften, die Theophil Antonicek im Romantikerfriedhof seines geliebten Maria Enzersdorf ebenso – und auf Dauer – einen Platz verschaffen wie in der Welt der Wissenschaft, in unserem Gedächtnis und in unseren Herzen. Er war umfassend gebildet, wissbegierig, immens fleißig, stets hilfsbereit, gutmütig, geduldig, hatte schier grenzenloses Vertrauen in seine Studierenden, er war humorvoll, intelligent, bescheiden. In großer Dankbarkeit verneige ich mich vor dem verehrten Lehrer und treuen Freund.
letzte Änderung: 10.05.2014 • Text: Martin Eybl • Webeinrichtung: Konrad Antonicek